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symposium on systematic and constructive art, madrid -
individual presentation #1989/2020


Kunst von Karl Siegel
inseriert: 02.02.22
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symposium on systematic and constructive art, madrid - individual presentation

der nachfolgende text basiert auf einem vortrag, der von karl siegel am 08.04.1989 im centro cultural de la villa in madrid gehaltenen und um die werkbeschreibung seiner dort ausgestellten arbeiten gekürzt wurde. mit ihm sind jene an sich selbst gelangweilten kulturbürger aufs korn genommen worden, die zu dieser zeit die postmoderne denkverwirrung evoziert, den wahrheitsbegriff weitgehend eliminiert und den diskurs notorisch mit theorie verwechselt haben.

in einer zeit, in der die beliebigkeiten postmoderner ideenkonglomerate weite gebiete im westeuropäischen kunstbetrieb beherrschen, mögen selbst kritische beobachter der zeitabläufe von anachronistischen eindrücken beschlichen werden, wenn junge künstler mit rationalen überlegungen auf dem gemachten, dem prozesshaften insistieren und das experiment, die sinnliche herausforderung des materials vorantreiben, um neue dimensionen des systematisch-konstruktiven zu erschließen.

ob die von den panegyrikern des zeitgeistes apologisierte subjektive "ich-finde-position", welche die systematisch-konstruktive kunst der späten 1980er jahre vordergründig als anachronistische angelegenheit abqualifiziert oder mit "neo-geo" endgültig abgehandelt wähnt, sich im kunstbetrieb als kriterium etabliert, hängt maßgeblich davon ab, inwieweit dem gedächtnis als ordnungsfaktor der ästhetik priorität beigemessen wird. denn nur der profunde reflexive erinnerungsbestand bietet eine akzeptable vergleichsmöglichkeit, um die rational intendierte kunstarbeit der gegenwart auf den prüfstein der geschichte zu heben.

eine nicht unerhebliche rolle bei der bewertung rationaler kunst nimmt zudem der gesellschaftliche funktionszusammenhang ein, der ihr zugrunde gelegt wird. erst das dialektische wechselspiel zwischen dem, was im bereich der "exakten ästhetik" (max bense) inhaltlich und strukturell in abhängigkeit vom stand der wissenschaftlichen welterfahrung und praktischen weltbewältigung geleistet wurde - und gegenwärtig auf dem höchsten stand der technik gesellschaftlich rückvermittelt geleistet wird - ermöglicht eine betrachtung, die der systematisch-konstruktiven kunst annähernd gerecht werden kann.

dem stehen allerdings jene subjektiv überzüchteten tendenzen entgegen, die mit einem schier grenzenlosen pluralismus den kunstbetrieb in westeuropa dominieren und ihrerseits einen nicht zu unterschätzenden beitrag leisten, um das bereits konturlos gewordene gesamtbild gegenwärtiger kunstproduktion zu allem überfluss noch irrational zu vernebeln. konstruktive konzepte, die, eklektizistischen anwandlungen abhold, ein auf klarheit und gesetzmäßigkeit gerichtetes denken konkret am gegenstand der künstlerischen produktion vermitteln, werden diesen tendenzen nicht gezielt gegenüber gestellt, sondern bedingungslos den marktgesetzen und konsumspekulationen unterworfen - wo sie günstigenfalls auf dem niveau der offiziellen anerkennung zur wirkungslosen dekoration verkommen.

die "errungenschaften" der postmodernen gegenwart sind gekennzeichnet durch das unterminieren sozialer verantwortung zugunsten kultureller identität. exemplarisch hierfür erscheint das verhalten des kunstbeflissenen zeitgenossen, der von einer falschen aktualität in die nächste taumelt und nur allzugern den gesamten kunstbetrieb mit einem opulenten warenhaus verwechselt, in dem er den geständen seiner identitätsstiftenden verehrung und besitznahme huldigt. es entspricht schließlich der grundfigur von rechts, absurditäten gegen identitäten einzutauschen.

die nun schon selbst zur geschichte gewordene tatsache, dass die kunst von kunstwissenschaftlern stetig in zeitkategorien eingeteilt wird, bildet die grundvoraussetzung dafür, dass das kompetente urteil durch die aktualität der gerade als novum feilgebotenen kunstäußerung ersetzt wird. so vollzieht sich in unserer schnelllebigen zeit der ominöse pluralismus der ästhetischen produktion längst dem der materiellen verschleißproduktion analog. unter dem label des pluralen jagt ein festival der attrappen und versatzstücke das andere und armselige sperrmüllarangements erhalten allenthalben die museale weihe - mit dem resultat, dass künstlerische produkte angehäuft werden wie zuvor schon butterberge und milchseen. die umarmung der auf "tingeltangel" erpichten kulturgesellschaft erwürgt somit jedes produkt ernsthafter künstlerischer auseinandersetzung, das dem schnellen glück des illusionistischen widerstrebt oder drückt es allenfalls in esoterische gefilde, wo es dem zustand der agonie überantwortet wird.

welche funktionsbestimmung auch immer der gegenwartskunst zugrunde gelegt wird oder von marktopportunen dienstleistungsdenkern oktroyiert werden mag, fakt ist, sie lässt sich nicht gesellschaftlich zweckfrei denken. jede kunstarbeit steht per se im gesellschaftlichen funktionszusammenhang. in einem funktionszusammengang, in dem relevanz nicht ausschließlich durch aktualität erzeugt wird, sondern durch grundlegungen, die fundierte kenntnis und versierte handhabung voraussetzen. eine voraussetzungslose kunstproduktion im gesellschaftlich autonomen, quasi luftleeren raum gibt es nicht. jede kunstäußerung ist also an ein spezifisches repertoire materieller trägerelemente gebunden und gesellschaftlich rückvermittelt - selbst die allerscheußlichste, insbesondere die.

so impliziert gerade die unter erzkapitalistischen bedingungen sich vollziehende verschiebung von qualitätskriterien - hin zu den quantitativen bewertungsinstrumenten des marktes (der konzentration auf umsatz, rangfolgen und wenige markennamen) - für den methodisch arbeitenden kunstproduzenten die notwendigkeit, sich eine ebenso konsistente wie kritisch reflektierende instanz zu erarbeiten, um jeden teil seiner handlungen einem geschichtlich abgesicherten, kritisch fundierten bewusstseinsprozess zu unterstellen. eine kunstarbeit, die nicht bloß erhaben-dekorativ oder marktgängig sein will, sondern über ihre ästhetischen implikate hinaus den anspruch erhebt kritisch zu sein, entsteht nicht einfach durch parteilichkeit, sondern durch die reflexion auf das ganze und die suche nach emanzipatorischen veränderungen; und dadurch kann sie gar nicht anders als partei ergreifen. aber nur dort, wo dieses postulat praktisch eingelöst wird, kann es wirklich gelingen, den kunstimmanenten regelkreis zu durchbrechen. nur dort kann die konstruktive kunst zur enzyklopädischen (im sinne von richard paul lohse) anancieren: zu einer kunst der vernunft, zur einer moralisierenden politischen kunst, die analyse und ordnung nicht ausschließt, sondern einbezieht.

die weiterentwicklung der rationalen kunstproduktion bedingt also geradezu jener postulate, die dem kunstproduzenten den nötigen gesellschaftspolitischen rückhalt verschaffen, damit er nicht zum "luxusdiener" der illusteren kulturgesellschaft oder zum "dekorateur seiner eigenen neurose" (harry kramer) verkommt. mit ihr ergibt sich ganz von selbst die moralische legitimation, der lustvollen pervertierung logischen denkens hohn zu sprechen und den rückzug von kunstschaffenden auf die eigene einmaligkeit zu verhindern.

zudem sollte die konstruktive gegenwartskunst, die diesem anspruch gerecht werden will, sich der opportunistischen verwässerung resistent erweisen, um nicht doch noch in den durchlauferhitzer des allgemeinen zeitgeistes zu geraten. denn sie ist nicht unbedingt darauf konditioniert, in den goldenen grabkammern kurzlebiger kunstmoden und trends die prophylaktische kunstgeschichtliche weihe zu erheischen. sie muss also reflexiv bleiben - und das heißt in der konsequenz, sie muss sich ihrer ausgangsfragestellung immer wieder neu vergewissern.

die ebenso kritisch wie rational ausgerichtete kunstpraxis hat folglich mit subjektiver weltsicht weniger zu tun als mit wissenschaftlicher methodik und einsicht. zumal sie auf auf definierbare verhältnisse - im raum und auf der bildfläche - zielt und dabei dem rationalitätstypus heutiger wissenschaft und technik entspricht. und das schon insofern, als sie mit der vergegenständlichung des selbst keiner impression oder intuition folgt, sondern der systematischen erforschung mathematisch definierbarer elemente und zustände auf basis größtmöglicher einfachheit von ausgangsgegebenheiten.

das logische machen als taktgeber der motivation, die dinge zu ändern, gerät somit zur manifestation des existentiellen. alle meine arbeiten seit 1980, vornehmlich stahlskulpturen, sind dieser intentionalität verpflichtet und dementsprechend nach geregelten verfahren im a priori ausgemessenen rahmen entwickelt. (...)