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WIR WAREN THE WHO - DIE WHO WAREN NUR SIE SELBST. ..und
dann war da noch NIEMEN - der ER selbst war


Kunst von sc.Happy
inseriert: 12.10.09
Hits: 3661


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Niemen ist Dylan als The Who

Ich bin sechzehn. In unser Dorf kommt ein Schriftsteller aus Berlin. Weisses Langhaar, wuschliger weisser Bart. Sitzt vor der Klasse, liest gestenreich vor, unterbricht sich an einer Stelle, zieht aus der Aktentasche eine Schallplatte, fragt die Klasse, wer von uns sagen kann wie der Mann auf dem Cover heisst.

Die Jungs sagen dies. Die Mädchen sagen das. Der Rest der Klasse schweigt.
Bob Dylan., sagt der Schriftsteller.
Das erste Doppelalbum in der Geschichte der Rockmusik überhaupt.
Redet vom Krieg in Vietnam, von Protest und Frieden, vom Stellenwert amerikanischer Liedermacherei. Sagt, dass wir in der besseren Gesellschaftsordnung leben, in einer grossen Menschengemeinschaft. Reckt sein Plattencover am ausgestreckten Arm, ruft:
Bob Dylan bekennt sich zu uns.
Beruhigte sich rasch, setzt die Lesung fort, unterbricht sich wieder, sagt mit glänzenden Augen.

Blonde on Blonde. Das ist Bob Dylan.
Es herrscht Stille in der Klasse. Niemand nickt, keiner macht sich irgendwie bemerkbar, nicht einmal die Klassenbeste versucht sich an einem Kommentar. Wir halten den Mann aus Berlin schlichtweg für gag, das reicht einer mecklenburgischen Schulklasse von damals hin, Bescheid zu wissen, sich einig zu sein. Dylan, Bob, redet der, mit richtigem Namen Robert Allen Zimmermann, Gitarrist, Mundharmonikaspieler, Komponist, wandlungsfähiger Sänger, Bürgerrechtler, populär, einflussreiche, eine grosse Persönlichkeit halt, bescheidener Sohn eines Händlers für Haushaltsgeräte, unter jüdisch orthodoxer Erziehungsregentschaft in einer Bergbaustadt nahe der kanadischen Grenze aufgewachsen.
Spielt seit seinem zwölften Lebensjahr Gitarre.
Verehrt Hank Williams.
Solche Sachen. Dass der sich eine Zeit lang in der Countryszene versucht hat und Kunst in Minnesota studierte, in Bars auftrat, seinen Namen von Elton Gunn in Bob Dylan umbenannt hat, das Studium abbricht, nach New York reist, wo er im Vorprogramm des Bluesveteranen John Lee Hooker spielt.
Kehlige rauhe Stimme.
Rauhe Intonation. Nachlässige Artikulation.
Eben Hocker.
Wer sonst.
Spricht uns unmusikalischen Mecklenburger, die wir auf The Who stehen, von Dylans Lebensgefühl, von Aufbruch, Stimmung und Ablehnung bürgerlicher Ästhetik, Flower-Power-Generation. Songs wie Blowiní In The Wind und The Times They Are A-Changing oder Mr Tambourine Man, Itís All Over Now, Baby Blue, Like A Rolling Stone und Ballad Of A Thin Man, haben wir längst abgehakt. Dylan ist nicht unser Star. Dylan bricht nur für den Mann aus Berlin mit dem Klischee der akustischen Authentizität. Dylan gibt uns kein Signal. Rüdiger sagt, als davon die rede ist, dass Dylan überlegt haben soll, aufzugeben, dass Bob Dylan sich besser ganz aus der Öffentlichkeit zurückzieht. Von uns wartet keiner auf Dylan Comeback. Dylan kann von uns aus Literart, Schauspieler sein und gute Filmmusik schreiben alles in einer Person sein: Offenheit, Trend, Gehalt, Beginn und Rückbesinnung, Ursprung und Gewissen, Ära und Phase, Innerlichkeit und Bewusstseinserweiterung, Impulse und Verehrter, Joyce, Villon, Brecht, die Kompetenz schlechtweg und pure Lebenssucht. Wir können mit Bob Dylan nichts anfangen. Wir mögen seine Gitarre vielleicht, wenn man uns fragt. Seine Stimme mögen wir nicht. Wir hassen das Näseln, sein Nuscheln und die Enden seiner Worte, die von ihm künstlich gedehnten und verschlucken Silben, wegen der Erkennbarkeit, dem Unverwechselbaren.

Der singt wie Kaugummi flutscht., sagt ein Mädchen unserer Klasse auf dem Schulhof. Yes. The Who sind unverwechselbar., sagt mein Kumpel und wir nicken alle zustimmend. Dylans Botschaften stammten aus der anderen Welt. Dort sollen sie ruhig bleiben. Bob Dylan ergreift uns einfach nicht. Es ist peinlich, sich auch nur einen Song von ihm bei offenem Fenster reinzuziehen. Wir stehen auf Typen in schrägen Klamotten. Wir lieben jaulende Gitarren und krasse Gitarristen wie diesen wahnsinnigen Hendrix, Jimi. Damals in Woodstock, neben Joplin und Cocker. Das Festival der Festivals. Auf all die irren Typen zugeschnitten. Kiffende Leute, die sich bei den Händen fassen, halbnackt und zugedröhnt im Kreis tanzen, ellenlange Refrains singen, die einen viel schöneren Frieden fordern als die angebliche Freiheit von Dylan.

Highsein und Menschentum sehnen, das ist, was Are You Experienced und The Jimi Hendrix Experience meinen. Jimi bringt uns zu The Velvet Underground & Nico und zu The Doors.Jimi lockt Jefferson Airplane, Cream, The Beatles, The White Album, Pink Floyd, Van Morrison, Led Zeppelin, Captain Beefheart, Frank Zappa, The Kinks, King Crimson, Crosby, Stills, Nash & Young in unser Haus.

Wir richten uns einen stillgelegten Hühnerstall her. Wir legen Matratzen aus, installieren eine Tonanlage, hören bis zum Abwinken The Who. Der Sänger, der für uns ein Metallarbeiter ist, den freien Arm wie der Kegler schleudert und zum Schluss der Konzerte seine Gitarren allesamt zerschmettert, bei jedem Konzert mindestens drei. Und die Leute können nicht genug haben davon. Sie werfen ihm ihre eigenen Gitarren auf die Bühne, dass er sie ihnen demoliert und die jämmerlichen Reste hinwirft. Oder der Schlagzeuger. He, Mann, der wirft einfach sein Schlagzeug um, springt drauf herum, versucht sich die Zunge rauszureissen, schiesst mit einer geladenen Flinte auf seine goldenen Schallplatten als wären sie Wurftauben. Das macht so ein Schnösel wie Dylan nicht. The Who sind im Tee. The Who lallen beim Interview, wenn sie drauf sind wie Dylan lallt, wenn der ganz normal ist.
The Who kichern blödsinnige Attitüden und sagen, dass sie Amerika erobern werden und die gesamte USA in China umwandeln; auf dem Mars eine Bühne errichten wollen. The Who stopfen in ihren Filmen Massen Torte in sich. Sie werden gierig. Sie knacken Geldschränke, in denen sich weitere Torten stapeln, die sie anrückenden Polizisten in die Fressen schmeissen. Und was das Beste an The Who ist, The Beatles sind ihre echten Feinde. Sie äffen The Beatles nach und verarschen deren Musik als Geträller und lausige Kompositionen.

Übergiesst The Beatles mit Jauche, ruft einer von The Who, vollführt einen Handstand, lässt sich Wasser ins Hosenbein giessen. Der Schlagzeuger reisst sich mit irrem Blick beide Ärmel vom Hemd. Und dann sagt einer von The Who für alle, wie stinksauer The Who auf die Zustände innerhalb unserer Welt sind. Deswegen nur verlören The Who, wo sie sind, ständig die Kontrolle über sich. Weil die Welt so schlecht ist. Jedes Bandmitglied von The Who ist allzeit nahe daran, jemanden einfach mit der Gitarre den Kopf zu spalten, um nach dessen Hirn zu grabschen, in es hinein zu beissen. Bei The Who träumen die Musiker davon, andere Musiker umzubringen, sich gegenseitig umzubringen, live auf der Bühne, endgültig umzubringen. Und Polizistinnen sind auf der Bühne zu vergewaltigen, als erstes Zeichen im Kampf gegen die Weltherrscher.

Wir sind The Who. Wir zwängen uns in die Klamotten unserer Helden. Eine Mutter näht uns das Zeugs, das The Who auf der Showbühne trägt. Ingwerfarbene T-Shirts mit Zielscheibe. Jacken aus dem Stoff der amerikanischen Flagge geschneidert. Wir werfen Kartoffelsalat gegen die Hühnerstallwände. Wir suchen Lederhandschuhe mit Messer und Gabel aufzuessen und geraten durch die Musik von The Who dermassen in Rage, dass wir gegeneinander rennen, taumeln, hinfallen und wosie anständig zum Tanze beisammen sind, quer durch den Saal robben, seltsam am Boden zucken. Knie gegen Kopf. Hand zum Griff, Arm zur Luftgitarre geschwungen.

Was für Schwindler wir sind, sagt einer von uns.

WAS NICHT GESAGT WERDEN MUSS MUSS

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